„Die Dritte Welt hier entdecken“

■ Der Befreiungstheologe Leonardo Boff im Haus der Kirche

Berlin. „Sehen heißt, die Dritte Welt hier in der Ersten Welt zu entdecken: Drogenabhängigen und Aids-Kranken; Urteilen heißt, die Kluft zwischen arm und reich als strukturelle, geschichtliche Sünde zu denunzieren; Handeln heißt, daß auch in Europa Basisgruppen entstehen, die ihren Glauben leben.“ Mit dieser Anwendung der Methode „Sehen-Urteilen-Handeln“ beschrieb Leonardo Boff, brasilianischer Befreiungstheologe, die Bedeutung dieser Theologie für Europa. Boff und sein Bruder Waldemar sprachen am Donnerstag im Haus der Kirche in Charlottenburg.

Angesichts des 500jährigen Jubiläums der „Entdeckung“ Amerikas erinnerte Boff an die Vernichtung der amerikanischen Kulturen: „Bis heute ist die Kirche Lateinamerikas nur eine Ausdehnung der Europäischen Kirche. Mit den Basisgemeinden wird das Christentum zum erstenmal zu einer Volksreligion, in der sich indianische, afroamerikanische, spanische und römische Traditionen vermischen.“

In Brasilien gibt es über 100.000 Basisgemeinden, in denen sich Laien zusammenfinden, um gemeinsam die Bibel zu lesen und ihr Leben danach zu gestalten. Dabei, so Boff, erfahren sich die Armen zum erstenmal als Adressaten der christlichen Botschaft, die sich in den Basisgemeinden zu einem Volk und einem Volk Gottes organisieren. Neue Pädagogik, Religion und Politik seien nötig mit Blick auf „die Ausgeschlossenen der Gesellschaft, jene Hälfte, die nicht mal das Privileg hat, ausgebeutet zu werden“, meinte Waldemar Boff, der im brasilianischen Petropolis Projekte mit Straßenkindern betreut. Die Aufnahme eigener Traditionen sei ein Recht der eingeborenen Kirchen, erklärte Leonardo Boff: „Wir können nicht vergessen, daß das europäische Christentum die Religion der Weißen ist, die unsere Vorfahren ermordet haben.“ Die Theologie der Befreiung fördere die Stellung der Laien in der Kirche. Unter dem Beifall der ZuhörerInnen erklärte Boff, er selbst fühle sich wie „zum Laienstand promoviert“. Der Theologe spielte damit auf Vorgänge um seine Person an. Nach 20 Jahren Arbeit als einer der „Väter“ der lateinamerikanischen Befreiungstheologie hatte er kürzlich seinen Rücktritt vom Priesteramt und seinen Austritt aus dem Franziskanerorden erklärt. „Wer sich ständig beugt, wird am Ende krumm“, hatte er erklärt, nachdem er von der Amtskirche wiederholt gemaßregelt worden war. Bernhard Pötter